Schulden für alle!
Covid-19 bringt die Eurostaaten näher zusammen, zumindest was die Finanzierung ihrer Haushalte betrifft. Dem Euro hilft's, zumindest für eine Weile.
In einem Dorf, in dem jeder Haushalt für jeden anderen haftet, merkt auch der tugendhaft Sparsame bald, dass ihm seine selbst auferlegte Sparsamkeit wenig nutzt. Warum sollte er sein Geld beisammenhalten, wenn er für die Schulden der anderen Bewohner mithaften muss? Warum nicht auch auf Kredit leben, zumal der nichts kostet? Folglich passen sich die sparsamen Dorfbewohner dem Ausgabeverhalten der ausgabefreudigeren an, was zu einer immer ungehemmteren Schuldenaufnahme führt.
Die Gläubiger bleiben entspannt. Aufgrund der gesamtschuldnerischen Haftung sind sie gerne bereit, den bonitätsmäßig schwächeren Dorfbewohnern Geld zu etwas höheren Konditionen zu leihen, da letztlich ja ohnehin die Gemeinschaft haftet. Solange das Verschuldungsniveau des ganzen Dorfes noch tragbar erscheint, gibt es keinen Anlass zur Sorge.
Die Bank, die alles zahlt ...
Aber selbst, wenn die Schulden immer weiter steigen, wäre die Rückzahlung der Kredite kaum gefährdet. Denn unter den Gläubigern gibt es eine Bank, die sich dem Dorf besonders verpflichtet fühlt und den Zusammenhalt der Dorfgemeinschaft unter allen Umständen sichern will.
Diese Bank versteht sich als Kreditgeber der letzten Instanz. Das heißt: Im Notfall kauft sie den anderen Instituten ihre Dorfkredite ab. Sie kann dies in unbegrenzter Höhe tun, da sie keine normale Bank ist, sondern Geld in beliebiger Menge drucken kann. Die durch etwaige Verluste entstehenden Löcher in ihrer Bilanz füllt sie mit selbstgeschaffenem Geld wieder auf, soweit die Eigentümer dem zustimmen. Da trifft es sich gut, dass die Bank den einzelnen Haushalten des Dorfs gehört, wenngleich mit unterschiedlich großen Anteilen.
In der Vergangenheit gab es immer wieder Meinungsverschiedenheiten unter den Dorfbewohnern, wie stark die Bank einzelnen besonders hochverschuldeten Haushalten unter die Arme greifen darf. Im Zuge der Coronakrise hat sich das aber geändert, weil nun auch die ehemals sparsamen Haushalte auf Pump leben und schwerlich den anderen Haushaltsdisziplin vorschreiben können. Damit wurden auch die lange umstrittenen Dorfanleihen hoffähig, die von der Bürgermeisterin im Namen der gesamten Dorfgemeinschaft begeben wurden.
Der Euro gewinnt - aber wie lange?
Das Dorf ist die Eurozone, die Haushalte sind die einzelnen Staaten, der Kreditgeber der letzten Instanz ist die Europäische Zentralbank (EZB) und die Dorfanleihen sind die neubegebenen EU-Anleihen. EZB-Präsidentin Christine Lagarde hat jüngst noch einmal unmissverständlich klargemacht, dass eine Fragmentierung innerhalb der Eurozone um jeden Preis zu vermeiden sei. Gemeint sind damit stark voneinander abweichende Finanzierungsbedingungen der einzelnen Euroländer, die aus großen Renditedifferenzen der jeweiligen Staatsanleihen resultieren.
Zuletzt waren die Unterschiede angesichts der Corona-Hilfen winzig klein. So klein wie seit dem Beginn der Eurokrise 2009 nicht mehr. Wegen der gewaltigen Corona-Hilfen der EZB. Wenn es Lagarde, die eine erfahrene Politikerin ist, gelänge, die vermögenderen Dorfbewohner zu überzeugen, dass die Häuser im Süden dauerhaft unter den Folgen der Pandemie litten, die EZB also den Corona-Hilfsmodus einfach konservieren würde, dann wäre die Gefahr eines Auseinanderbrechens der Eurozone für längere Zeit gebannt.
Der Kapitalmarkt verliert seine (Lenkungs)funktion
Anders ausgedrückt: Die Pandemie hat den Weg in eine informelle Haftungs- beziehungsweise Schuldenunion geebnet. Damit steigt auch das Vertrauen internationaler Investoren in den Zusammenhalt der Gemeinschaftswährung, obwohl die Wachstumsperspektiven weiterhin mager sind.
Allerdings bedeutet eine informelle gesamtschuldnerische Haftung noch keine echte Fiskalunion. Im Vergleich zu den Einzelländer-Währungen bleibt der Euro ein fragiles Gebilde, das durch eine am Rande ihrer Legitimation operierende Notenbank zusammengehalten wird.
Die durch die EZB geschaffene Investitionssicherheit untergräbt langfristig die Lenkungsfunktion des Kapitalmarktes, weil sie die Marktteilnehmer verleitet, die Bonitätsunterschiede der einzelnen Länder nicht mehr angemessen zu berücksichtigen und zu einem Verschuldungswettlauf innerhalb der Eurozone führen könnte.
Die künstlich geschaffene Eurostabilität trägt also letztlich den Keim einer erneuten Krise in sich, die hervorbrechen dürfte, wenn die Verschuldung in einigen Ländern völlig aus dem Ruder läuft.
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Binder Manfred, MLS
allgemein beeideter und gerichtlich zertifizierter Sachverständiger
Quelle: Flossbach von Storch
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